Biographiearbeit – wie kann sie helfen?
Geschrieben von Johannes Schleicher am 30. April 2019
Kategorien: Pflege, Pflegetipps
Mit der pflegerischen Biographiearbeit bringt man die Lebensgeschichte eines Menschen in dessen Pflege und Betreuung ein. Einerseits aktiviert sie Patienten, andererseits führt die Beschäftigung mit dem Leben des Patienten für Pflegekräfte zu einem besseren Verständnis des Pflegebedürftigen.
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Biographiearbeit aktiviert noch vorhandene Fähigkeiten
Generell hat der Fokus von Pflege sich vom Defizitären hin zur Aktivierung verschoben. Anstatt darauf zu achten, was der Patient nicht mehr kann, konzentriert man sich eher darauf, was er noch kann und wie er dies erhalten kann. Dazu dient Biographiearbeit gewissermaßen als Schlüssel. Mit der Orientierung am Leben des Patienten kann man herausfinden, welche Fähigkeiten noch wie weit vorhanden sind und diese dann fördern.
Aktivierung des Langzeitgedächtnisses von Menschen mit Demenz
Ein Beispiel für Aktivierung ist das Erinnerungsvermögen. Nicht nur ältere Menschen erzählen gerne Geschichten aus ihrer Vergangenheit. Bei Menschen mit Demenz hat es damit jedoch eine besondere Bewandtnis: Kognitive Einschränkungen betreffen meistens zuerst das Kurzzeitgedächtnis. Was gerade passiert ist, wird vielleicht vergessen, an die Vergangenheit erinnert man sich jedoch noch eher.
Durch Biographiearbeit aktiviert man das Langzeitgedächtnis, indem man es konstant anspricht. Nicht nur hat das kognitive Vorteile, nämlich das Erhalten der Gedächtnisfähigkeit bzw. die Verzögerung des Vergessens; das Erinnern hat auch durchaus positive Einflüsse auf das Empfinden des Patienten.
So tauchen durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit des Pflegebedürftigen oft Erinnerungen auf, die dieser bereits vergessen hatte und über die man sich dann natürlich besonders freuen kann.
Selbstverständlich gibt es auch unangenehme Erinnerungen, die wieder auftauchen können – in diesem Falle muss man behutsam ins Gespräch kommen und tröstend wirken. Außerdem sollte man generell den Fokus auf die positiven Erinnerungen legen, da das Ziel der Biographiearbeit letztendlich doch die Lebensqualität des Patienten ist.
Zur Info
Worauf Sie beim Umgang mit Menschen mit Demenz achten müssen haben wir andernorts bereits in 13 Tipps für Sie zusammengefasst. Wie geistige Fähigkeiten von Menschen mit Demenz erhalten bzw. gefördert werden können, können Sie sich in unserem diesbezüglichen Beitrag durchlesen.
Biographiearbeit hilft, Patienten zu verstehen
Für Pflegende wiederum kann Biographiearbeit eine bedeutende Erleichterung ihrer Arbeit mit sich bringen. Indem man die persönlichen Eigenheiten, das Einzigartige in der Person des Patienten kennenlernt, kann man auch Signale, die dieser über sein Befinden gibt, sehr viel leichter entschlüsseln.
Dadurch, dass bestimmte Verhaltensweisen und Vorlieben oder Abneigungen durch das Leben des Patienten einen Kontext erhalten, kann man dessen Verhalten leichter deuten – das ist gerade bei Menschen mit Demenz, die ihre eigene Gedankenwelt nicht mehr klar kommunizieren können, ungemein hilfreich. Das Resultat ist, dass eventuelle "Fehltritte" des pflegebedürftigen Menschen leichter toleriert werden und man ihm so ruhiger und besonnener gegenübertritt.
Das beidseitige Vertrauen wächst ebenfalls: Auch Menschen mit Demenz merken es, wenn jemand ihnen mit Interesse gegenübertritt und bereit ist, sich mit ihm und seinem Leben zu beschäftigen.
Für wen eignet sich Biographiearbeit?
Grundsätzlich kommt Biographiearbeit für jeden Menschen in Frage, schafft sie doch ein gewisses Maß an Selbstreflexion, die wiederum dazu führt, dass man aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart und die Zukunft zieht. Das betrifft nicht nur pflegebedürftige Menschen.
Die Besonderheit der Biographiearbeit aber, die Individualität der Menschen zu ergründen, hat großes Potential für die Pflege von Menschen mit Demenz.
Dadurch, dass man sich mit dem Leben der betreffenden Person beschäftigt und für alles, was man zusammen macht, persönliche Vorlieben nutzt, verläuft die Aktivierung von Fähigkeiten auf einem sehr emotionalen Niveau, was sich für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz viel mehr eignet als rein rationale Herangehensweisen.
Musik in der Biographiearbeit
Indem man Menschen mit Demenz Musik aus ihrer Vergangenheit vorspielt oder sie gemeinsam mit ihnen singt oder spielt, kann man eine Brücke in ihre Geschichte schlagen, bei der man keine Worte benötigt, kein konkretes Erlebnis wachrufen muss.
Vom Spaß an der Musik und am gemeinsamen Musizieren gerät man oft von alleine in eine Erinnerung hinein. Wenn nicht, dann hat man immer noch den Spaß an der Musik!
Mehr zu Musik und Biographiearbeit können Sie in unserem Gespräch mit Musikgeragogin Marie Rohde erfahren.
Wie wird Biographiearbeit möglich?
Um Biographie leisten zu können, sind an sich zwei Faktoren wichtig: Das Vertrauensverhältnis zwischen Pflegeperson und Patienten sowie Informationen über das Leben des betreffenden Menschen.
Für das Vertrauen ist die aufrichtige Zuwendung der Pflegeperson absolut notwendig: wenn der pflegebedürftige Mensch merkt, dass man sich ihm gerade nur widmet, weil es auf dem Stundenplan steht, kann sich kein Vertrauen einstellen. Man muss sich mit Fürsorge, Feingefühl und Geduld auf das Gegenüber einstellen und vor allem bei der Arbeit mit der Biographie diskret bleiben.
Auf der anderen Seite sollten nicht vertrauliche Informationen über die Biographie auch dokumentiert werden, damit andere Pflegepersonen daran anknüpfen können. Wobei wir auch bei der zweiten Voraussetzung sind: Die Informationsbeschaffung.
Da wäre erst einmal der betreffende Mensch selbst; auch Menschen mit Demenz können sich noch an sehr viele Details aus der Vergangenheit erinnern. Deshalb kann man sie einfach erzählen lassen, sich alte Fotoalben erklären lassen und sie gerne auch zu manchen Dingen – wie zum Musikgeschmack, dem Lieblingsessen etc. – befragen. Nur sollte man dies ohne Druck tun, um den betreffenden Menschen nicht zu stressen.
Abgesehen davon kann man auch bei den Angehörigen Erkundigungen einziehen, was Familienverhältnisse, das soziale Umfeld, die Karriere etc. des Patienten angeht.
Was können Sie als Angehöriger tun?
Als Angehöriger haben Sie selbstverständlich eine Sonderstellung, da Sie sich bereits kennen, die Vertrauensbasis also schon hergestellt ist, und da Sie auch bereits viel über Ihren pflegebedürftigen Verwandten wissen. Gerade weil Sie Teil seiner Biographie sind, können Sie viel intensiver darauf eingehen und viel bewusster dort ansetzen, wo Ihr Verwandter Potential bzw. Vorlieben zeigt.
Wird Ihr Verwandter von einem Pflegedienst gepflegt, können Sie, wie weiter oben schon angedeutet, den Pflegekräften die Biographiearbeit erleichtern, indem Sie Informationen über Ihren Verwandten zur Verfügung stellen. Wichtig ist hierbei natürlich, dass Sie keine allzu vertraulichen Informationen weitergeben. Sie können den Pflegekräften auch Memorabilia wie Fotoalben oder Schriftstücke geben, die diese dann zusammen mit Ihrem Verwandten durchsehen und besprechen können.