Als Angehöriger Entscheidungen treffen – aber wie?
Geschrieben von Michael Piplack am 27. September 2021
Kategorie: Demenz
Michael Piplack betreibt gemeinsam mit Jolanta Klawon den Demenzratgeber demenz-und-du, in dem die beiden ihre persönlichen Erfahrungen in der Betreuung von Menschen mit Demenz weitergeben. Während Michael diese Erfahrungen bei der Betreuung seiner demenzkranken Mutter gemacht hat, arbeitet Jolanta in der sozialen Betreuung einer Residenz und hilft täglich Betroffenen und deren Angehörige.
Wir müssen immer wieder Entscheidungen treffen, die nicht unseren täglichen Routinen entsprechen. Und das kann sehr stressig werden.
Selbst bei eigentlich schönen Dingen – wohin fahren wir in den Urlaub? welche Farbe soll das neue Auto haben? – kommen wir oftmals nicht zu einem Ergebnis.
Das ist schon sehr ärgerlich. Aber viel schlimmer wird es, wenn wir zu entscheiden haben, welche Maßnahmen für einen geliebten, an Demenz erkrankten Menschen eine optimale Versorgung garantieren – das ist eine ungeheure Last.
Als meine Mutter immer dementer wurde, mussten eine Reihe von Entscheidungen getroffen werden.
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Übrigens ist schon das Anerkennen der Demenz eine Entscheidung, die vielen sehr schwer fällt – nicht nur Betroffenen, sondern auch Angehörigen!
Aber es ging natürlich noch viel weiter:
- Welchem Arzt wollen wir vertrauen?
- Wie können wir meinen Vater bestmöglich unterstützen?
- Wohngemeinschaft, Heim oder Pflege zu Hause?
- Sollte das Haus nicht besser verkauft werden?
- Wenn nicht zu Hause, dann wo (meine Eltern wohnten ca. 100km weit vom Wohnort meiner Schwester und mir entfernt)?
- Und vieles mehr…
Es waren ja nicht nur die sachlichen Themen, die zu entscheiden waren; hinzu kamen die Emotionen! Meine Eltern, beide über 80 Jahre alt, hielten sich natürlich für jung und stark und wollten ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben!
Dabei war es klar, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Wir mussten einschreiten! Wir mussten Entscheidungen treffen!
Ich möchte an dieser Stelle gar nicht auf jeden einzelnen Punkt eingehen. Wichtig und sehr hilfreich waren die Prozesse, die dahinter standen. Bewusst gemacht habe ich sie mir allerdings erst hinterher.
In der Phase der Entscheidungsfindung haben wir als Team – meine Schwester, ihr Mann und ich – ganz automatisch entsprechend reagiert.
Mit diesen 8 Ideen zur Entscheidungsfindung haben wir es geschafft, gemeinsam eine Reihe von wichtigen Entschlüssen zu fassen und umzusetzen.
Vielleicht helfen dir einige dieser Ideen bei der Umsetzung deiner Pläne:
1. Bilde ein Team
Sehr nützlich ist es, wenn du nicht allein bist. Die Aufgaben sind so vielfältig, dass einer alleine leicht daran zerbrechen kann.
Mit Team meine ich hier eine Gruppe von Vertrauten. Ideal, wenn jeder gewisse Teile der Verantwortung zu übernehmen bereit ist. Perfekt, wenn man offen und vertrauensvoll miteinander kommunizieren kann!
2. Nimm eine neue Perspektive ein
Zu jedem Problem gibt es immer mehrere Lösungswege, mache dir das bewusst. Auch wenn du sicher bist, dass du den besten Lösungsweg kennst, bleibt es doch deine ganz persönliche Meinung.
Jemand anderes, mit anderen Erfahrungen und Gedanken, hat vielleicht ganz andere Vorstellungen, wie die nächsten Schritte auszusehen haben. Er schaut aus einer anderen Perspektive auf das Problem.
Versuche doch mal, eine andere Perspektive einzunehmen, sieh das Problem aus einem anderen Blickwinkel, nimm die Position eines anderen ein.
Oftmals ergeben sich daraus wieder ganz neue Einsichten und ein Kompromiss ist leichter zu finden.
Als es beispielsweise um den besten Heimplatz für meine Eltern ging, haben wir uns für einen Platz in der Nähe meiner Schwester entschieden, auch wenn ich das erst nicht wollte.
Da meine Schwester aber viel mehr Zeit für Besuche hatte und weniger mobil ist, war es schließlich eine ganz logische Entscheidung.
3. Habe Mut zur Lücke
Du kannst nicht alles wissen! Es macht keinen Sinn, Entscheidungen immer weiter hinauszuzögern, nur weil du ein paar Details noch nicht herausgefunden hast. Irgendwann muss eine Entscheidung getroffen werden!
Vertraue auch Fachleuten. Pfleger und Ärzte sind dafür ausgebildet, für den Menschen mit Demenz da zu sein. Du brauchst nicht alles wissen und können, was diese Experten gelernt haben.
Das heißt nicht, dass du die Augen vor allem, was passiert, verschließen solltest. Aber mache dir auch bewusst, dass jede getroffene Maßnahme ggf. korrigiert werden könnte.
Keine Entscheidung zu treffen ist immer das deutlich größere Manko!
4. Mach eine Pro- / Contra-Liste
Eine ganz simple Methode und dennoch so selten angewandt!
Baue dir eine Liste mit allem, was für und gegen eine Entscheidung spricht. Versuche, so objektiv wie möglich zu sein. Emotionen sind dabei häufig ein schlechter Ratgeber!
Als es bei uns um den Umzug in eine alternative Wohnform ging, war dieses Instrument sehr hilfreich. Plötzlich wurde allen klar, dass es beiden Elternteilen nur helfen würde, wenn sie die professionelle Betreuung in Anspruch nehmen würden.
Die Gefahren für eine pflegebedürftige Mutter und einen schwächer werdenden Vater wären im eigenen Haus viel zu groß! Trotz einiger vor allem emotionaler Einwände sprach alles für den Umzug!
5. Wage einen Schritt in die Zukunft: Wie sieht das Leben der Erkrankten dann aus?
Die meisten von uns neigen dazu, jede Art der Veränderung erst einmal negativ zu sehen. Das Unbekannte ist immer etwas unbequem.
Dabei soll ja alles, was wir für den Erkrankten tun, dessen Lebensqualität massiv verbessern!
Natürlich ist es schwer, das eigene Haus für einen Heimplatz zu verlassen. Aber ist es nicht viel schlimmer zu sehen, wie die Eltern sich quälen, das Haus und den Garten in Ordnung zu halten?
Ist es nicht viel schöner, die eigenen Eltern in einer Residenz gut aufgehoben zu sehen? Zusammen mit anderen in der gleichen Lebenssituation? Gut versorgt und beschützt?
Dieses Bild haben wir uns eingeprägt und auch in der Übergangsphase meinen Eltern vermittelt (was nicht einfach war) und so die Entscheidung zum Umzug getroffen.
6. Dein Standpunkt ist wichtig!
Wie schon oben erwähnt, macht es absolut Sinn, Entschlüsse, die das künftige Leben der Erkrankten bestimmen, im Team zu treffen. Doch leider ist dies nicht immer auf ganz harmonische Weise möglich.
In vielen Familien kommt es zum Streit um die weiteren Vorgehensweisen. Zu verschieden sind die Meinungen, jeder hat seine Sicht der Dinge. Sei darauf gefasst!
So oder so solltest du dir keinen künstlichen Druck auferlegen! Bringe deine Gedanken, die ja wohl begründet sind, klar zu Ausdruck.
Lasse nicht zu, dass andere einfach darüber hinwegsehen, mache deinen Punkt!
Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben, wenn du eine andere Meinung hast als andere. Viel zu häufig knicken Menschen ein, weil sie meinen, sie müssten es allen Recht machen. Das wird in einer so komplexen Situation kaum gelingen.
Natürlich muss dann zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Kompromiss gefunden sein. Aber nur einer, der für alle Beteiligten in Ordnung ist!
7. Klare Termine erleichtern die Entscheidung!
Es ist schon interessant, dass wir Menschen unter Druck fähig sind, schneller zu einer Entscheidung zu kommen. Je länger wir Zeit haben (oder meinen, diese Zeit zu haben!), desto eher verschleppen wir alles, was zu einer schnellen Entscheidungsfindung beiträgt.
Dabei helfen klare „Deadlines“: Bis zum Datum X wird eine Entscheidung zum Thema Y getroffen. Punkt.
Zu glauben, dass man mit mehr Zeit zu besseren Ergebnissen kommt, ist in aller Regel ein Irrglaube.
Als wir in unserem Team klar gesagt haben, dass zum neuen Jahr ein Umzug in ein Heim stattfinden soll, haben wir viel fokussierter an der Suche und der Umsetzung gearbeitet.
Am 2. Januar fand dann die Fahrt in die neue Residenz statt!
8. Höre auf dein Bauchgefühl!
Manchmal ergeben alle besprochenen Methoden kein eindeutiges Ergebnis. Was dann? Wie schon oben beschrieben: Eine Entscheidung muss getroffen werden, keine Entscheidung hilft niemandem!
Es bleibt dann immer noch dein Bauchgefühl als letzte Instanz. Nicht zu unterschätzen: hier versammeln sich alle Erfahrungen, Lehren und Eindrücke, die das Leben so mit sich bringt.
Aber dran denken: Versuche auch hier, die Emotionalität so weit wie möglich zu reduzieren! Es nützt nichts, an längst vergangene Zeiten zu denken. Sie werden nicht mehr wiederkommen!
Was auch immer du zu entscheiden hast, wie auch immer deine Entscheidungen aussehen. Wichtig ist: Triff Entscheidungen! Scheue dich nicht! Sonst entscheidet ein anderer!