Freiheitsentziehende Maßnahmen – wie kann man sie verhindern?
Geschrieben von Johannes Schleicher am 14. September 2020
Kategorien: Pflege, Pflegetipps
"Freiheitsentziehende Maßnahmen" (FEM) ist ein Begriff, der sich von selbst erklärt. Man versucht durch bestimmte Maßnahmen, Menschen daran zu hindern, sich frei zu bewegen. Von solchen Maßnahmen sind in der Regel Menschen mit Demenz betroffen, da sie eventuell nicht mehr verstehen, warum was gefährlich ist. Um sie zu schützen, greift man in seiner Not dann zu Freiheitsentzug.
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Freiheitsentziehende Maßnahmen – wie kann man sie verhindern?
Achtung:
Freiheitsentziehende Maßnahmen sind ethisch höchst bedenklich, zu rechtfertigen höchstens zum Abwenden einer unmittelbaren, großen Gefahr. Und auch dann gilt es, die Maßnahmen frühstmöglich zu beenden und sich nach §1906 Abs. S. 2 BGB unverzüglich eine nachträgliche Genehmigung zu holen.
Das soll hier klar gesagt sein, damit nicht der Eindruck entsteht, freiheitsentziehende Maßnahmen seien eine gängige pflegerische Praxis. Das Gegenteil sollte der Fall sein.
Daher versuchen wir hier, auf vermeintliche Gründe für freiheitsentziehende Maßnahmen einzugehen und Mittel zu identifizieren, um diesen Gründen auf andere Art und Weise zu begegnen.
Zur Wirksamkeit freiheitsentziehender Maßnahmen
Ganz abgesehen von der ethischen und legalen Bedenklichkeit steht auch die tatsächliche Wirksamkeit von FEM in Frage: Wer Opfer dieser Maßnahmen wird, büßt an Autonomie und Selbstvertrauen ein, leidet erheblich mehr unter psychischem Stress und verliert durch die eingeschränkte Freiheit auch Mobilität und generell motorische Fähigkeiten. All das trägt nicht dazu bei, Gefahren zu mindern. Hinzu kommt die Gegenwehr gegen solche Maßnahmen, die wiederum Folgeverletzungen hervorrufen kann.
Also dienen die Maßnahmen – zumindest langfristig – noch nicht einmal der körperlichen Gesundheit.
"Gründe für" freiheitsentziehende Maßnahmen - und was man stattdessen tun kann
Wie erwähnt betreffen FEM sehr oft Menschen mit Demenz. Grund ist der, dass man oft nicht mehr klar kommunizieren kann, was getan oder gelassen werden soll, um Gefahren zu vermeiden. Aber um welche Gefahren geht es hierbei?
Sturzgefahren vermeiden
Stürze werden mit zunehmendem Alter zu einer sehr präsenten Gefahr. 30% der Menschen in Deutschland über 65 stürzen mindestens ein Mal pro Jahr. Es ist verständlich, dass man seinen Angehörigen davor schützen möchte, sich vor einem Sturz zu schützen.
Aber freiheitsentziehende Maßnahmen, quasi die Holzhammermethode der Sturzprophylaxe, sollen dabei vermieden werden. Schauen wir uns die Sturzgefahr deshalb einmal näher an. Worüber stürzt man, und weshalb stürzen ältere Menschen öfter?
Gründe für Stürze sind zum einen Stolperfallen: Herumliegendes Zeug, Teppiche, Türschwellen, zu glatte Fußböden. Es liegt nahe, diese Stolperfallen einfach zu beseitigen:
- Teppiche raus
- Zeug ins Regal
- Stoppersocken an die Füße
- hohe Türschwellen farblich markieren
In unserem Beitrag zum barrierefreien Wohnen finden sich weitere Maßnahmen zum sicheren Wohnen im Alter.
Weitere Gründe für Stürze sind körperliche Schwäche und zu langsame Reflexe. Das sind Umstände, die sich im Alter zwangsläufig einstellen und denen man zwar mit Training begegnen kann, die man aber nie völlig vermeiden kann. Folgendes kann man deshalb tun:
- Medikamentierung kontrollieren
Blutdrucksenkende Mittel, beruhigende Medikamente und Schlafmittel erhöhen das Sturzrisiko. Man kann mit dem behandelnden Arzt über Alternativen nachdenken - Gehhilfen einsetzen
Wird das Stehen bzw. das Gehen zunehmend anstrengend, sollte man auf Rollatoren, Gehstöcke oder sonstiges zurückgreifen. Dadurch fällt nicht nur das Gehen leichter, sondern auch die Sturzgefahr wird verringert. - Schutzmaßnahmen
wie beispielsweise Hüftprotektoren verringern die Verletzungsgefahr bei einem Sturz.
Selbstverletzungen
Spitze und scharfe Gegenstände, Medikamente etc., kurz, gefährliche Gegenstände, bilden ein weiteres Gefahrenpotential – und auch hier sind FEM ein "effizientes" Mittel, die betreffenden Personen erst gar nicht an derartige Gegenstände kommen zu lassen.
Nehmen wir die Küche als Beispiel, da sie wohl die meisten gefährlichen Gegenstände in einem Haus beinhaltet, sieht man vielleicht von einer Werkstatt ab. Gefahrenquellen sind
- Messer
- Scheren
- Feuerzeuge
- Medikamente (oft in der Küche aufbewahrt)
- Herd/Ofen
Potentiell gefährliche Gegenstände sollte man, soweit möglich, dort platzieren, wo sie von der betreffenden Person nicht gesehen bzw. nicht erreicht werden können. Was den Ofen angeht, so kann man sich vor ernsten Gefahren mit Rauchmeldern – die ja ohnehin Pflicht sind – sowie Smart Home Technologien, wie etwa einer automatischen Ausschaltung des Herds nach einer gewissen Zeit, schützen.
Katheter, Sonden & ähnliches
Öfter versuchen Menschen mit eingeschränkter Kognition, sich Katheter, Sonden etc. selbst wieder zu entfernen, weil sie ihnen unangenehm sind.
Dem kann man zumindest in einem gewissen Grad dadurch entgegenkommen, dass man sie bestmöglich unter der Kleidung verbirgt und dort mit Pflastern befestigt. So fallen sie möglichst wenig auf und rücken so umso weniger ins Aufmerksamkeitszentrum der betreffenden Person.
Abgesehen davon sollten derartige Dinge ohnehin nur angewandt werden, solange sie wirklich vonnöten sind, also möglichst bald wieder entfernt werden.
Innere und äußere Unruhe
Ein weiterer vermeintlicher Grund für freiheitsentziehende Maßnahmen ist psychomotorische Unruhe - beispielsweise die Hinlauftendenz bei Menschen mit Demenz. Für Pflegekräfte und Angehörige ist diese Gefahr umso größer, als die Gründe für die Unruhe oft nicht klar kommuniziert werden können. Wie auch immer die Motivation auch geartet ist, können die Gefahren bei psychomotorischer Unruhe sehr real werden.
Wie kann man dem begegnen?
Zum einen durch körperliche Ertüchtigung. Unruhe entsteht – Demenz hin oder her – oft durch Unausgelastetheit. Spürt man seinen Körper aktiv, spürt man, dass man etwas getan hat, ist das sehr beruhigend.
Dazu können Therapien, musikgeragogische Angebote und ähnliches in Anspruch genommen werden. Aber auch ein Spaziergang tut sein übriges.
Zum anderen kann man etwa durch basale Stimulation oder Musiktherapie seinen Ruhepol auch durch ein In-sich-gehen, quasi durch Meditation, wieder finden.
Herausforderndes, aggressives Verhalten
Wer an sich bemerkt, dass seine kognitiven Fähigkeiten langsam schwinden, ist – verständlicherweise – leicht frustriert. Der Frust wird gerne nach außen getragen, andere Ursachen für die schlechte Laune werden gesucht und im Gegenüber gefunden. So stehen Demenz und Aggressionen in einem Zusammenhang (auch wenn das nicht zwangsläufig der einzige ist). Reagiert ein Mensch mit Demenz unwillig, aggressiv, irrational, liegt es nahe, sich von ihm zu entfernen und zuzusehen, dass die Distanz auch eingehalten bleibt. Wobei wir bei der FEM wären.
Allerdings kann man auch versuchen, die Gründe der Aggression zu erkennen – wie das hier gerade kurz umrissen wurde – und dann an diesen Gründen etwas zu ändern.
Nun ist kein Mensch wie der andere, kein Mensch mit Demenz ist wie der andere und die Gründe können vielgestaltig, komplex und verworren sein. Dennoch sollte man versuchen, den Menschen bestmöglich zu verstehen, die Gründe für seine Aggressionen herauszufinden, um diese dann, so es denn geht, zu beseitigen.
In unserem Beiträgen zum Umgang mit Menschen mit Demenz und zur Kommunikation mit Menschen mit Demenz finden sich dazu viele nützliche Informationen.
Schlussbemerkung
Dieser Beitrag wurde unter der Annahme geschrieben, dass tatsächlich genug Zeit für die Pflege des betreffenden Menschen da ist. Ist man alleine für 25 Patienten auf einem Flur verantwortlich oder hat als Angehöriger noch Kinder und einen Beruf, um den man sich kümmern muss, so können manche dieser Tipps sogar zynisch wirken. Die Zeit für die Pflege eines Menschen muss auf jeden Fall gegeben sein, damit diese Pflege auch gut ist. Dies liegt aber dann nicht mehr in der Macht eines Einzelnen, sondern vielmehr in den Strukturen unserer Gesellschaft, die es zu ändern gilt, falls die Zeit für wirkliche Pflege fehlt.
Weiterführende Infos
Die Seite https://www.pflege-gewalt.de/ bietet viele wirklich gut aufbereitete Informationen zu FEM und anderen Themen der Gewalt in der Pflege. Auch die Informationen in diesem Beitrag bedienen sich teils der dort bereitgestellten Infos.