Musik und Demenz – Lebensfreude durch Erinnern
Geschrieben von Johannes Schleicher am 10. April 2017
Kategorie: Demenz
Marie Rohde ist Musikgeragogin und veranstaltet musikalische Gruppenstunden mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Wohngemeinschaften für Demenzkranke der Jedermann Gruppe. Wir haben ihr zu ihrer Arbeit einige Fragen gestellt.
Weshalb bist du Musikgeragogin geworden?
Das war mehr oder weniger eine glückliche Fügung. Alles fing mit einem Dokumentarfilm an: „Alive Inside – a story of Music and Memory“. Darin begleitet der Sozialarbeiter Dan Cohen den Filmemacher Rossato-Bennet.
Er spielt Menschen mit Demenz die Musik vor, die sie ihr ganzes Leben gemocht haben, also quasi den Soundtrack ihres Lebens. Was mit den Menschen dort passiert, ist unglaublich.
Sie erwachen aus ihrer Zurückgezogenheit, lachen, sprechen mehr, bewegen sich und Erinnerungen an Menschen, Orte und Gegebenheiten, die mit diesem Musikstück zusammenhingen, kommen auf einmal wieder an die Oberfläche. Ich dachte mir, wenn Musik so etwas kann, dann möchte ich auf jeden Fall in diesem Bereich arbeiten und mich dabei auf Demenz spezialisieren.
Und gerade mit alten Menschen zu arbeiten, ist mir ein besonderes Bedürfnis: Kinder und Jugendliche werden intensiv gefördert – bei alten Menschen gibt es da noch viel Aufholbedarf. Das Bewusstsein, dass Musik in ihren verschiedensten Formen und Möglichkeiten in den Pflegebereich eingebracht werden kann, ist noch kaum vorhanden.
Betreuung für Menschen mit Demenz
Oft ist die Betreuung zuhause nicht mehr möglich. Dafür stehen unsere Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz in Brandenburg an der Havel zur Verfügung, in denen die Bewohner fürsorglich und professionell betreut werden.
Was war dein schönstes Erlebnis bisher?
Davon gibt es viele! Neulich habe ich mit einer Gruppe zum Beispiel "Junge, komm bald wieder" gesungen. Der Teilnehmer, der sich dieses Lied gewünscht hat, ist früher mit der Handelsmarine zur See gefahren; seine Mutter hat ihm dieses Lied immer gesungen, als er abfahren musste. Was sich in seinem Gesicht abspielte – Wehmut, Glück, Trauer – war sehr bewegend.
Durch die Musikstunden lernen sich auch alle Teilnehmer besser kennen. In einer Gruppe haben sie zum Beispiel auch schon angefangen, sich über ihre Marotten lustig zu machen, weil sie sich schon so gut kennen. Die Vertrautheit ist im Laufe der Zeit sehr gewachsen.
Gab es auch traurige Erlebnisse?
Traurig wird es immer dann, wenn ein Bewohner oder eine Bewohnerin aus dem Musikkreis verstorben ist. Das muss natürlich thematisiert werden; der Umgang mit dem Tod gehört genauso dazu wie alles andere. Das fällt mir noch schwer, aber ich lerne mit der Zeit immer mehr dazu. Wir singen dann ein Lied für den- oder diejenige und unterhalten uns über schöne Erlebnisse mit ihr oder ihm.
Abgesehen davon achte ich darauf, dass ich keine negativen Erinnerungen oder Traumata heraufbeschwöre. Es geht ja vor allem darum, eine gute Zeit zu haben und die Lebensqualität zu steigern.
Trotzdem wird es manchmal ernst und traurig. Neulich hatte ich das Thema "Abschied und Wiederkehr". Da hab ich ein Wander- und Soldatenlied gespielt: "Muss i denn zum Städele hinaus?" Eine Teilnehmerin hat mich dann bedrückt angesehen und gesagt: "Das haben wir auch gesungen, als wir '45 los mussten aus dem Sudetenland."
Das hat sie also ganz konkret an ihre Vertreibung und Flucht erinnert. Solche Situationen sind oft schwierig, weil ich auch schauen muss, ob der Betroffene sich vor der Gruppe darüber äußern will.
Mit Musik kann man auch alte Wunden aufreißen – wie gehst du dann vor?
Ja – es müssen auch gar keine großen, geschichtlichen Wunden sein. Ein Teilnehmer zum Beispiel ist früher als Tenor aufgetreten. Er hat immer noch eine wunderschöne Stimme, aber seiner Meinung nach ist sie nicht mehr das, was sie einmal war. Manchmal fühlt er sich trotzdem wie zum Singen berufen, greift sich dann aber an die Kehle und wirkt traurig, weil er merkt, er kann das nicht mehr so wie früher.
Ich muss es dann schaffen, das zu kompensieren und ihm andere Aufgaben geben. Das Auseinandersetzen mit dem eigenen Körper und mit den Fähigkeiten ist aber auf der anderen Seite wieder sehr vorteilhaft, weil man manchmal auch merkt, dass man Stärken hat, wo man sie gar nicht vermutet hat, und sich einfach besser kennen lernt.
Wie profitieren Pflegekräfte von den musikgeragogischen Angeboten?
Musik in all ihren Formen führt zu einer Steigerung des Wohlbefindens von Pflegebedürftigen jeglicher Pflegegrade. So werden Patienten auch von den Pflegenden als umgänglicher erlebt. Das führt zu weniger Stress bei den Pflegekräften, deren positive und ruhigere Ausstrahlung sich wiederum auf die Patienten überträgt. Musik kann ein Beitrag zum harmonischen Miteinander sein und dadurch die Atmosphäre spürbar verbessern.
Es wurde in Studien nachgewiesen, dass sogar eine Reduktion von beruhigenden Medikamenten bei Menschen mit Demenz möglich ist, da deren – teilweise – symptomatische Unruhezustände durch den gezielten Einsatz von Musik nachweislich zurückgingen.
Warum würdest Du Pflegeeinrichtungen musikgeragogische Angebote empfehlen?
Das Ziel der musikgeragogischen Angebote ist das folgende: Ein würdevolles und schönes Leben zu fördern, geistige und körperliche Fähigkeiten so lange wie möglich zu erhalten sowie sich selbst, seine Bedürfnisse und Interessen nicht zu verlieren. Und um nichts Geringeres geht es auch in der Pflege. Musikgeragogik kann ein Weg sein, dies mit zu verwirklichen.
Vielen Dank für das Gespräch, Marie! Wir wünschen dir weiterhin viel Spaß und viel Erfolg mit deiner Arbeit!